BMI
Hans-Dietrich Genscher
(1927-2016)
Über zwei Jahrzehnte prägte Hans-Dietrich Genscher maßgeblich als Minister die Innen-, aber viel mehr noch die Außenpolitik der Bundesrepublik. Dabei verschwieg er seine NSDAP-Mitgliedschaft und sorgte dafür, dass NS-Akten erst zwei Jahrzehnte später der Bundesrepublik übergeben wurden.
Warum er die NS-Aufarbeitung über zwei Jahrzehnte erschwerte
Unter dem ersten Innenminister der FDP, Hans Dietrich Genscher, wandelte sich 1970 die Zusammensetzung des BMI-Personals erheblich. Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder sank seit der Gründung des Ministeriums durch einen Generationswechsel erstmals auf unter 50 Prozent. Dass Genscher selbst, wenn auch nur für wenige Monate, der Partei angehört hatte, wurde erst 1994 öffentlich, also zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Außenminister.
Bekannt war bis dahin, dass Genscher als 15-jähriger Hitlerjunge eine Ausbildung zum Flakhelfer und danach bis Ende 1944 den Reichsarbeitsdienst absolviert hatte. Im Januar 1945 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Nach eigenen Angaben wollte er auf diese Weise einer Zwangsrekrutierung zur Waffen-SS entgehen. Über eine Mitgliedschaft in der NSDAP sprach Genscher nicht.
1994 gaben die USA nach jahrzehntelangen Verhandlungen tausende Dokumente des Berlin Document Centers an die Bundesrepublik zurück. Darunter befand sich auch die Mitgliederkartei der NSDAP. Darin waren unter anderem die Namen dreier Bundespräsidenten, ehemaliger Minister, Fraktionschefs und des langjährigen Außenministers Hans-Dietrich Genscher aufgeführt.
Nach der Enthüllung behauptete Genscher, er habe „zu keiner Zeit von der NSDAP, der Hitler-Jugend (HJ) oder irgendeiner anderen Organisation oder Dienststelle des NS-Staates eine Mitteilung über eine Mitgliedschaft in der NSDAP erhalten“ (Spiegel 28/1994). Er sei wohl als Hitlerjunge unwissentlich auf eine Sammelliste geraten. Daran zweifelte unter anderem der Spiegel.
In einem Artikel vom 11. Juli 1994 berichtete das Magazin, Genscher habe schon in den frühen 1970er Jahren, also noch als Innenminister, durch einen diskreten Hinweis von seiner NSDAP-Mitgliedskarte im Berlin Document Center erfahren. Das bestätigte auch der Journalist und studierte Historiker Malte Herwig in seinem Buch „Die Flakhelfer“ (2013). Er hält Genschers Aussage, er sei mit anderen kollektiv und ohne eigenes Wissen in die NSDAP aufgenommen worden, für eine Schutzbehauptung, zeigt jedoch Verständnis für die „verführte Generation“[1].
Herwegs Recherchen zeigen, dass die USA seit den 1960er Jahren immer wieder die Karteikarten bedeutender deutscher Politiker in einem „Giftschrank“ wegsperrten, aber auch seit 1967 zur Rückgabe der NS-Unterlagen bereit waren. Das hätten jedoch die bundesdeutschen Regierungen bis zur Wiedervereinigung verhindert. Federführend sei dabei Hans-Dietrich Genscher gewesen, von 1969 bis 1974 als Innenminister und ab da als Außenminister. Herwig erklärt:
„Wären diese Akten schon in den Siebzigerjahren zurückgegeben worden – und dazu waren die Amerikaner bereit – wäre seine NSDAP-Vergangenheit und die vieler anderer Spitzenpolitiker herausgekommen, als sie noch Regierungsverantwortung hatten.“[2]
Genscher verschwieg demnach nicht nur seine eigene NSDAP-Mitgliedschaft. Indem er die Übernahme der NS-Akten durch die Bundesrepublik über mehr als zwei Jahrzehnte verzögerte, erschwerte er nicht zuletzt die Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch deutsche Institutionen und Personen.
Jakob Saß
[1] Senfft, Alexandra: Die Verführten, in: Die ZEIT, 16.5.2013, Link.
[2] Tichomirowa, Katja: Nazi-Vergangenheit von Politikern. Ein doppeltes Spiel, in: Berliner Zeitung, 21.6.2013, Link.
Lebenslauf
21.3.1927: geboren in Reideburg/Saalkreis
Ab 1937: Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend (HJ)
1943-1944: Luftwaffenhelfer, Reichsarbeitsdienst
1945: NSDAP-Mitgliedschaft und Wehrdienst in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges, amerikanische und britische Kriegsgefangenschaft
1946-1949: Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaft
1946-1952: Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei (LDP), Landesverband Sachsen-Anhalt
1946-1949: Referendarexamen in Leipzig, Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk Halle
1952: Übersiedlung in die Bundesrepublik
seit 1952: Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP)
1952-1954: Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk Bremen, zweite juristische Staatsprüfung in Hamburg
1954: stellvertretender Landesvorsitzender der Jungdemokraten in Bremen
1954-1956: Anwaltsassessor und Rechtsanwalt in Bremen
1956: wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion
1959-1965: Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, daneben von 1962 bis 1964 Bundesgeschäftsführer der FDP
1965-1998: Mitglied des Deutschen Bundestages
1965-1969: Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion
1968-1974: stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender
1969-1974: Siebter Bundesinnenminister
1974-1985: Bundesvorsitzender der FDP, Mitglied des Bundesvorstandes
1974-1992: Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler
1992: Rücktritt auf eigenen Wunsch, Ehrenvorsitzender der FDP
2001-2003: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
1.4.2016: verstorben in Wachtberg bei Bonn